Hendrik Witbooi wurde etwa 1834 geboren und starb 1905 im Krieg gegen die deutsche Kolonialmacht in Südwestafrika. Er gehört zu den neun nationalen Held*innen, die in Namibia verehrt werden.
Witbooi war ein Oberhaupt der Orlam – Gruppe der Witbooi, die wie die Nama zu den Khoi Khoi (Selbstbezeichnung mit der Bedeutung „Menschen“) gehören. Die Nama bezeichneten sich als „rote Stämme“ im Unterschied zu den „schwarzen“ Herero, die zu den Bantu gehören.
Die Orlam hatten seit dem 16.Jahrhundert Kontakt mit in der Kapregion anwesenden europäischen Einwanderern, den siedelnden Buren sowie Missionaren und Händlern. Teils hatten sie sich mit Buren vermischt und sprachen (auch) Afrikaans, konnten Lesen und Schreiben, erlernten den Gebrauch von Schusswaffen und den Umgang mit Reitpferden, gehörten der christlichen Religion an und trugen europäische Kleidung. Ihre Oberhäupter nannten sie Kapitein. Als gemeinsames Zeichen trugen die Witbooi ein weißes Tuch um ihre Hüte, im Unterschied zu den Swartbooi, die ein schwarzes Tuch verwendeten.
Die Witbooi waren um die Mitte des 19. Jahrhunderts aus dem Gebiet des heutigen Südafrika in den Südwesten des heutigen Namibia gewandert. Als nomadische Viehzüchter mussten sie ihre Weidegründe immer wieder durch Absprachen und Bündnisse oder aber kriegerische Auseinandersetzungen mit anderen Gruppen sichern. Sie fochten mit verschiedenen Nama-, Orlam- und Baster*- Gruppen (*eine später eingewanderte Gruppe von Nama-Mischlingen) und führten viele Jahre Krieg gegen von Europäern unterstützte Hereros, die aus dem Norden eindrangen. Dabei spielten deutsche Einflüsse schon früh eine Rolle, zunächst von Seiten der Rheinischen Mission, die sowohl bei den Herero als auch den Orlam und Nama aktiv war und auch Handelsgeschäfte betrieb.
Von Hendrik Witbooi sind Briefe und Aufzeichnungen erhalten. Er schrieb an andere Kapiteins sowie an Missionare, Händler, Vertreter der englischen Kapregierung und die Autoritäten der deutschen Kolonialherrschaft. So können wir heute noch Einblick in seine Sichtweisen, Probleme und Strategien nehmen.In den Briefen wird Hendrik Witboois Bereitschaft zum Gespräch und zu Verhandlungen deutlich, und ebenso eine selbstbewußte Hartnäckigkeit. Dabei bezieht er sich auch auf christliche Moralvorstellungen und religiöse Visionen.
Die Aufzeichnungen veranschaulichen die Art der bestehenden Konflikte. Es ging um Aufenthalts- und Durchzugsrechte und um den Zugang zu Wasserstellen. Wenn notwendig, wurde gekämpft, und zwar sowohl in offenen Gefechten als auch mit der Erbeutung von Pferden, Waffen und Rindern. Kriegerische Auseinandersetzungen waren Kraftproben und Ausgangspunkte für Verhandlungen und Vereinbarungen, die das Kräfteverhältnis immer wieder neu regelten: Wiederholt betonte Hendrik Witbooi: „die uns angreifen, die werden wir wieder angreifen“ oder „wenn diese Leute im Kampfe gegen mich unterliegen, so mögen sie zu mir kommen, damit wir Frieden schließen.“ Hendrik Witbooi wusste sich erfolgreich zu behaupten und wurde als Kapitein aller Witbooi, „Oberkapitein von Groß-Namaqualand“ anerkannt. 1892 schloß er Friedensvereinbarungen mit den Herero ab.
Die deutsche Kolonialherrschaft konfrontierte Hendrik Witbooi mit einem absoluten Herrschaftsanspruch, der ihm bis dahin unbekannt gewesen war. Ab 1883 hatte Lüderitz mit einzelnen Nama-Anfuehrern Landüberlassungsverträge abgeschlossen. 1884 hatte Nachtigal das übertragene Land zum deutschen Schutzgebiet erklärt. Nach Absicherungen gegenüber Portugal und dem britischen Reich beanspruchte das Deutsche Reich ganz Südwestafrika und machte sich daran, dessen Bewohner*innen sukzessive zu unterwerfen. Hendrik Witbooi weigerte sich, einen Vertrag mit den Deutschen abzuschließen und begegnete ihnen zunächst auf Augenhöhe. So forderte er den deutschen Reichskommissar Göring 1889 auf, sich aus Streitigkeiten zurückzuhalten, „damit wir zunächst untereinander klarkommen“, informierte ihn darüber, dass er „die deutsche Flagge, die Sie dem Manasse überreicht haben, erbeutet habe“ und führt weiter aus: „Die Flagge ist eine fremdartige Sache für mich, und ich möchte gerne wissen, was ich damit anfangen soll“.
Ab Mitte 1889 wurde eine deutsche Soldatentruppe in Südwestafrika eingesetzt und das Gouvernement schnitt wenig später Witbooi von der Versorgung mit Waffen ab. Die Deutschen traten nun aggressiver auf. Hendrik Witbooi äußert in einem Brief an den Reichskommissar darüber wiederholt sein Erstaunen: „Sie befehlen mir kurzerhand, was ich zu tun habe. Euer Wohlgeboren können aus diesem Grunde dieses Mal keine ausführliche Antwort von mir erwarten…Die Sache erscheint mir sehr dunkel und unbegreiflich, und ich kann es durchaus nicht begreifen… Euer Wohlgeboren haben mir keinen Spielraum und keine freie Wahl gelassen, daß ich antworten könnte, was ich denke und wie ich denke. Sie haben mich nicht um Rat gefragt, mir auch keinen Rat gegeben, sondern haben mir kurz befohlen, was ich zu tun habe; ich bin deshalb über diesen Punkt erstaunt und werde zunächst nichts weiter sagen.“
Daraufhin versuchte Hendrik Witbooi, auf andere Kapiteins einzuwirken. An Joseph Fredericks, der einen Vertrag unterzeichnet hatte, schrieb er 1892: „Wie ich Euch bereits in meinem ersten Brief auseinandersetzte, ist es bei uns Kapiteins der roten Stämme so, daß unsere Leute bequem ohne Behinderung, Beschränkungen, Schwierigkeiten oder Missgunst auf demselben Platz zusammen wohnen und wir Kapteins alles miteinander regeln können. Bei den Deutschen ist das nicht der Fall; deshalb wünsche ich nicht, daß Ihr diesen Leuten noch weitere Rechte in unserem Land einräumt, wodurch sie sich nur noch mehr Macht und Einfluß anmaßen.“
Im selben Jahr wandte er sich an die britische Kapregierung und beklagte sich über den „anderen weißen Mann, (…) den ich ganz und gar nicht kenne; er kommt mit Gesetzen und Vorsätzen, die mir ganz unmöglich und unbegreiflich erscheinen und auch nicht aufrecht zu erhalten sind (…) Die Tätigkeit der Deutschen greift nun auch auf mein Gebiet über und geht mir ans Leben. Sie haben sich vorgenommen, mich durch Krieg zu vernichten, obwohl ich gar nicht weiß, was meine Schuld sein soll (…) Die Deutschen schlagen die Leute auf eine schändliche und grausame Weise wie dumme und unverständige Wesen, für die sie uns halten. Noch nie haben wir einen Menschen auf so ungehörige und grausame Weise gestraft wie sie.“
In einem zweiten Brief führt er aus:
„Wir sehen nun aber je länger, desto mehr, wie die Deutschen tätig sind und in unserem Land Gesetze aufstellen, und zwar unmögliche Taten und Gesetze. Die Kapiteins, die sich unter deutschen Schutz gestellt haben, haben damit ihr Land nicht an die Deutschen abgegeben, davon steht nichts in den Schutzverträgen. Die Kapitains selbst können die Taten und Gesetze der Deutschen nicht gutheißen; denn die Deutschen nehmen den Kapiteins ihre Gebiete eigenmächtig weg, um sich selbst darauf niederzulassen, und vergeben an andere Menschen Rechte, sich an diesen Plätzen niederzulassen. Die Deutschen haben sich diese Gebiete aber weder von den Kapteins ausgebeten, noch haben ihnen die Kapiteins diese Gebiete zur Verfügung gestellt. Auf die gleiche Art und Weise gehen sie auch auf meinem Gebiet vor, obgleich ich mich mit meinem ganzen Volk und Land, wie ich Euer Wohlgeboren bereits in meinem ersten Brief mitteilte, nicht unter deutschen Schutz gestellt habe. Die Deutschen haben daher weder das Recht noch die Macht, auf meinem Gebiet ohne meine Zustimmung und Genehmigung irgend etwas zu tun oder anzuordnen (…) Das, was die Deutschen vorhaben, bedeutet nichts anderes als Krieg, und das sind Vorgänge, aus denen nach dem eben geschlossenen Frieden ein großer Krieg, veranlaßt durch die Deutschen, entstehen wird. Der Anlass wird sein, daß die Deutschen unsere Gebiete und die Plätze eigenmächtig wegnehmen und andere Menschen ohne unsere Genehmigung in unser Land kommen lassen. Das können wir nicht zulassen, denn wir haben unsere Gebiete an niemanden abgetreten. Was der Eigentümer nicht hergegeben hat, kann niemand in Besitz nehmen.“
Hendrik Witbooi hatte genaue Vorstellungen von den Bedingungen, die er bei der Überlassung von Land stellte. Das wird in einem von ihm entworfenen Pachtvertrag deutlich, der überliefert ist. In dem Vertrag ist die Höhe der Pachtzahlungen vom Machtanspruch und vom sozialen Verhalten des Pächters gegenüber Dritten abhängig. In bestimmten Fällen ist keine Landüberlassung möglich: „Wenn er sich meinen Gesetzen nicht beugen will und sich den Beamten, die ich zu ihm schicke, entgegenstellt, gegen diese Beamten Bosheit oder Zorn zeigt, mit ihnen streitet, oder wenn er absichtlich mit Leuten meines Volkes Streit oder Kampf anfängt und ich das mit meinen Augen sehe, so werde ich diesen Mann von meinem Platz und aus meinem Gebiet ausschließen“.
1893 überfiel die deutsche Truppe unter Theodor Leutwein den Aufenthaltsort der Witbooi, mit 200 Soldaten. 85 Witbooi wurden getötet, die Hütten wurden niedergebrannt und 50 Frauen und Kinder als Gefangene mitgenommen. Hendrik und fast alle Krieger konnten entkommen.
Ein darauf folgender Briefwechsel zwischen Leutwein und Witbooi lässt die Gegensätze offen zutage treten.
Leutwein: „Ich habe Dir klargemacht, daß Du jetzt keine andere Wahl mehr hast als bedingungslose Unterwerfung unter den Willen Seiner Majestät des Deutschen Kaisers oder Krieg bis zur Vernichtung (…) Wenn Dir nun etwas noch nicht klar sein sollte, so halte ich es für das Beste, wir treffen uns zur mündlichen Unterredung mitten zwischen unseren Lagern; aber es muß bald geschehen, da ich wenig Zeit habe.“
Witbooi: „Die Friedensangelegenheit, die wir verhandeln, ist keine leichte Sache, die wir in einem Augenblick oder an einem Tag erledigen könnten; es ist vielleicht mehr eine gewichtige und heilige Angelegenheit (…) Den Begriff ,Frieden schließen’ verstehe ich so, daß jede am Friedensschluss beteiligte Partei ihr eigenes Staatsleben, ihre Rechte und alles, was von altersher ihr Eigentum ist, behält. So habe ich es beim Friedensschluss mit jeder Nation gehalten, die mit mir im Frieden lebt und mich nicht mehr angreifen will (…) Ich kann die Sache mit dem Schutz nicht durchschauen. Die Sache erscheint mir sehr schwerwiegend und unmöglich, denn ich kann und will nicht unter Ihnen stehen. Ich bitte Sie von Herzen, lieber Freund, lassen Sie mir doch meine Selbständigkeit.“
1894 griff Leutwein mit einer erheblich verstärken Truppe und Artillerieunterstützung an. Es gelang ihm, Witbooi und seine Leute erheblich zu schwächen und zur Unterwerfung zu zwingen.
Witbooi schreibt an ihn: „Sie zwingen mir die Stellung unter Schutzherrschaft auf, und ich kann wohl sagen, daß mir das sehr schwer fällt. Ich frage nun folgendes: Wenn ich nach Ihren Worten und Wünschen handle, wird dann mein Leben, Gebiet und alles, was mir gehört, mit aller Sicherheit mein Eigentum bleiben? Und wird mir meine Kapiteinschaft sicher sein?“ Während der Vertragsverhandlungen zog Leutwein die Schraube immer weiter an. Die Witboois wurden schließlich gezwungen, sich dem deutschen Gouvernement unterzuordnen, sich in Gibeon in direkter Nachbarschaft einer deutschen Garnison aufzuhalten und die deutsche Truppe jederzeit militärisch zu unterstützen. Hendrik Witbooi behielt seine Waffen, durfte bei Streitigkeiten zwischen seinen Leuten selbständig entscheiden und erhielt als „treue und zuverlässige Stütze“ der deutschen Regierung 2000 Mark im Jahr.
Hendrik Witbooi hielt sich zehn Jahre lang an die Abmachung. Nach dem Aufstand der Herero und dem Vernichtungskrieg der deutschen Armee jedoch trat er an die Spitze einer Erhebung der Nama gegen die brutale deutsche Unterdrückungspolitik und erklärte den Deutschen im Oktober 1904 offiziell den Krieg. Ein Jahr später starb er im Gefecht.
Quellen:
Hendrik Witbooi, Afrika den Afrikanern. Übersetzung, herausgegeben von Wolfgang Reinhard Bonn 1982, Unveränderte digitale Neuausgabe mit neuer Einleitung, Rostock 2017
weitere Informationen:
Autorin: Gertrud Rettenmaier