Edward Said wurde in Jerusalem in einer wohlhabenden arabisch-christlichen Familie geboren. Im Alter von 12 Jahren musste er 1947 mit seiner Familie flüchten und lebte von da an in Kairo. Seine Mutter gab ihm Orientierung und Förderung, während er seinen Vater als streng und unnahbar erlebte. Er besuchte ein britisches College, das ihn 1951 aus disziplinarischen Gründen ausschloss.
Da sein Vater von 1911 bis 1920 in den USA gelebt und die US-amerikanische Staatsbürgerschaft erworben hatte (im Ersten Weltkrieg war er Soldat der US-Armee), schickte die Familie Edward für seinen weiteren Bildungsweg in die USA. Er empfand seine neue Umgebung als sehr fremd und berichtet, dass er seine ganze Person an völlig neue Anforderungen anpassen musste. Er studierte in Princeton und Harvard und wurde schließlich Professor für Englisch und Vergleichende Literaturwissenschaften an der Columbia University in New York.
Der Sechstagekrieg 1967, der mit der Eroberung und Besetzung der Sinai-Halbinsel, des Gazastreifens, des Westjordanlands, der historischen Altstadt von Jerusalem und der Golanhöhen durch Israel endete, gab Edward Said den Anstoß, sich mit anderen Personen arabischer Herkunft auszutauschen. Er politisierte sich und wurde Teil der palästinensischen Widerstandsbewegung.
1970 heiratete er eine arabische Christin und wurde in den folgenden Jahren Vater von zwei Kindern.
Edward Said nahm wahr, dass die ,westlichen’ Darstellungen der arabischen Welt mit der erlebten Welt der arabischen Menschen wenig zu tun hatten. Als Wissenschaftler machte er es sich zur Aufgabe, die Geschichte und die politische Wirkung der ,westlichen’ Konstruktion des ,Orients’ zu erforschen und „ein Inventar jener Spuren anzulegen, welche die für alle Orientalen so folgenschwere kulturelle Herrschaft in mir als orientalischem Subjekt hinterlassen hat“.
Für sein berühmtes kulturgeschichtliches Werk Orientalismus analysierte er theologische und philologische Studien, wissenschaftliche Abhandlungen, literarische Werke, politische Traktate, Zeitungsartikel und Reisebücher, die im Verlauf von Jahrhunderten das Thema ,Orient’ behandelten, mit dem Schwerpunkt auf den Sprachraum der beiden Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich. Das Buch erschien 1978 und wurde bis zur amerikanischen Neuauflage von 2003 in 36 Sprachen übersetzt. Es wird als „Gründungsdokument“ der Postkolonialen Studien bezeichnet. Im Folgenden skizziere ich die Herangehensweise und wichtige Aussagen des Werks. In Zitaten lasse ich Edward Said selbst sprechen.
Edward Said beschreitet in seinen Analysen einen neuen Weg, der in den Postkolonialen Studien aufgegriffen wird. Er analysiert die Texte nicht nur an sich, sondern nimmt auch ihre jeweiligen Bezugsquellen und historischen Zusammenhänge in den Blick. Aus der Perspektive der Kolonisierten untersucht er Zusammenhänge der Denk- und Argumentationssysteme mit imperialistischen Interessen und Herrschaftsverhältnissen.
Edward Said stellt die Vorstellung von einer ,reinen’ wissenschaftlichen Erkenntnis ohne Einfluss und Verwertung durch die politische Sphäre in Frage. Seine Analyse belegt, dass sowohl die frühen theologischen Studien über den Islam als auch die wissenschaftlichen Abhandlungen über den Orient von der Zeit der Kreuzzüge bis heute in den Dienst der politischen Herrschaft gestellt wurden. Er zeigt an vielen Beispielen auf, wie sowohl Politiker als auch die Verfasser*innen literarischer Werke und Journalist*innen ihr Wissen aus etablierten ,Orientstudien’ beziehen und sich dadurch in einem konstruierten und relativ geschlossenen System bewegen, in welchem die Bewohner*innen der behandelten geografischen Gebiete beschrieben werden, aber selbst nicht zu Wort kommen.
Said verwendet „den Begriff ,Orientalismus’ als allgemeinen Rahmen für die westliche Herangehensweise an den Orient, der auch die daraus erwachenden Träume, Bilder und Redefiguren umreisst“.
Die Orientalistik als wissenschaftliche Disziplin entstand nach Said im christlichen Europa während des 14. Jahrhunderts. Sie umfasste Sprach- und Schriftforschung, Religionskunde und später auch Geografie und Anthropologie. Wer sich mit dem geografischen Raum der arabischen und asiatischen Welt, mit besonderer Beachtung islamischer Bereiche, in Zeiträumen von der Antike bis zur Aktualität befasste, war ein Orientalist.
Die Orientalistik gehe – so Said – „strikt anatomisch aufzählend vor, d.h. sie zerlegt und seziert das Orientalische in handliche Teile“. Orientalistik beschreibe die Oriental*innen als statische Figuren, die immer gleich bleiben: „unvernünftig, verderbt (sündig), kindisch und ,abartig’“, während „Europäer vernünftig, tugendhaft, erwachsen und ,normal“ seien. Als weitere Stereotype für Orientalen tauchen Sinnlichkeit, Hang zum Despotismus und Schlampigkeit auf. Der Orient wird als rückständig, barbarisch, hilfs- und rettungsbedürftig dargestellt. Said dazu: „Psychologisch gesehen ist Orientalismus eine Art Paranoia, also etwas anderes als das gewöhnliche historische Wissen.“
In der Orientalistik wurden die alten Hochkulturen z.B. Indiens oder Ägyptens hoch geschätzt. Die aktuellen Bewohner*innen der gleichen Kulturräume dagegen wurden abgewertet. So rechtfertigte z.B. Napoleon seine Eroberung Ägyptens mit dem Vorhaben der französischen Zivilisation, die Region aus der jetzigen Barbarei wieder an ihre frühere Größe heranzuführen.
Said belegt, dass die orientalistischen Wissenschaften im Zeitraum der kolonialen Eroberungen eine Blüte erlebten: „So fiel der institutionelle und ideologische Vormarsch des Orientalismus genau mit der beispiellosen Expansion Europas zusammen, als von 1815 bis 1914 die direkte Kolonialherrschaft stieg von etwa 35% auf knapp 85% der Erde“. Gleichzeitig wurden die Konzepte über die Orientalen „im 19. Jahrhundert ausdestilliert und gleichsam systematisiert, so dass die Verwendung des Begriffs ,orientalisch’ eine hinreichend feste Bedeutung ergab.“ Das war eine hervorragende Basis für die Legitimierung der Kolonialherrschaft, wie Said am Beispiel der Aussagen von Lord Balfour über die britische Kolonie Ägypten aufzeigt. Er fasst Balfours Aussagen wie folgt zusammen: „Hier sind die Westler und da die Orientalen. Erstere herrschen, Letztere müssen beherrscht werden, was gewöhnlich bedeutet, ihr Land zu besetzen, ihre inneren Angelegenheiten genau zu regeln, ihr ganzes Hab und Gut in den Dienst der einen oder anderen westlichen Macht zu stellen.“ Auch Frauen wurden als Objekte betrachtet. Said zitiert Reiseberichte und Romane, in welchen westliche‘ Männer des 19. Jahrhunderts in Phantasien über die grenzenlose Sinnlichkeit und Willfährigkeit orientalischer Frauen schwelgten.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und insbesondere im Zuge der Nahostkriege sei „der arabische Muslim zu einer Gestalt der amerikanischen Volkskultur avanciert“. Said zeigt mit vielen Beispielen, wie die altbekannten Stereotype in wissenschaftlichen Kreisen weiter gepflegt und Ängste vor dem Islam sowie terroristischen Muslimen in der Öffentlichkeit geschürt wurden. „Die Einstellungen der heutigen Orientalisten überfluten die Medien und die breite Öffentlichkeit. Zum Beispiel gelten Araber als kamelreitende, terroristische, hakennasige, käufliche Wüstlinge, deren unverdienter Reichtum einen Affront für jede wahre Zivilisation bedeutet. Dahinter verbirgt sich immer die Annahme, dass der westliche Verbraucher, obwohl er doch nur eine Minderheit bildet, eigentlich ein Anrecht auf den Großteil der Weltrohstoffe hätte.“
2003 führt er im Vorwort zur amerikanischen Neuauflage des Buches aus:
„Die zeitgenössischen arabischen und muslimischen Gesellschaften sind wegen ihrer Rückständigkeit, ihrer fehlenden demokratischen Verfassung und ihrer Entrechtung der Frauen so massiven und kalkuliert aggressiven Angriffen ausgesetzt, dass darüber eines offenbar ganz vergessen wird: Begriffe wie Moderne, Aufklärung und Demokratie sind keineswegs einfache, allgemein anerkannte Normen, die man wie Ostereier im Garten entweder findet oder nicht.“
Meine Idee im Orientalismus ist es, humanistische Kritik zu nutzen, um die Felder des Kampfes zu öffnen, eine längere Abfolge von Gedanken und Analysen einzuführen, um die kurzen Ausbrüche polemischer, gedankenstoppender Wut zu ersetzen, die uns so in Etiketten und antagonistische Debatten einsperren, deren Ziel es ist eine kriegerische kollektive Identität statt Verständigung und intellektuellen Austausch.
Reflexion, Debatte, rationale Argumentation, moralische Grundsätze, gestützt auf die säkulare Vorstellung, dass Menschen ihre Geschichte selbst machen müssen, wurden ersetzt durch abstrakte Ideen, in denen Amerika oder der Westen seine Außergewöhnlichkeit feiert, die Relevanz des Kontextes leugnet und andere Kulturen mit höhnischer Verachtung betrachtet… Unsere Aufgabe besteht darin, den Diskussionsrahmen zu erweitern, und nicht, ihn im Sinne der herrschenden Autorität zu begrenzen.“
Said nimmt Bezug auf den Philologen Georg Auerbach, der „anstelle von Entfremdung und Feinseligkeit einer anderen Zeit und Kultur gegenüber“ einen humanistischen Geist der Großzügigkeit und Gastfreundschaft proklamierte, der „in sich aktiv Platz für ein fremdes Anderes“ schafft.“
Im Jahr 1991 wurde bei Said Leukämie diagnostiziert. 12 Jahre kämpfte er gegen die Krankheit, fuhr aber fort zu schreiben und Einfluss zu nehmen. Er reiste mit seinen Kindern nach Palästina, um ihnen sein Herkunftsland vertraut zu machen. 1999 erschien seine Autobiografie „Out of Place“. Musik hatte immer einen hohen Stellenwert im Leben Edward Saids. Er schrieb auch Musikkritiken und Essays über Musikthemen. Mit der Vision von einem friedlichen Zusammenleben der Völker im Nahen Osten gründete er zusammen mit Daniel Barenboim 1999 das West-Eastern Divan Orchestra, ein Symphonieorchester, das zu gleichen Teilen aus israelischen und arabischen Musikern besteht.
2003 starb Edward Said in New York.
Quellen:
Edward Said, Orientalismus, 6. Auflage 2019
Videoaufnahme eines Gesprächs von Edward Said mit dem Journalisten Tariq Ali 1994:
Autorin: Gertrud Rettenmaier